SorrDer ehemalige Friedhof einer protestantischen Stadtgemein

Eine Dame aus dem Rokoko. Freilegung einer Gruft und weitere archäologische Arbeiten auf dem Kirchhof von Rathenow, Kreis Havelland

Sicher ungewöhnlich ist es in unseren Breiten, dass wir längst verstorbenen Menschen regelrecht ins Antlitz schauen. So geschehen aber im August 2003, als eine Gruft neben der St. Marien-Andreas-Kirche in Rathenow vollständig untersucht werden musste. Diese Gruft war nur eine neben vier weiteren, die im Zuge der mehr als einjährigen Grabungsarbeiten von Juni 2003 bis September 2004 entdeckt wurden. Anlass der bauvorbereitenden Grabung mit anschließender Baubegleitung war die Sanierung des gesamten Kirchbergs und des anschließenden Altstadtbereichs von Rathenow mit Verlegung zahlreicher Medienleitungen.

Der Kirchberg von Rathenow einschließlich der östlich anschließenden Flächen bildet ein historisch wichtiges und stadtgeschichtlich bedeutendes Gebiet. Auf der Bergkuppe selbst befindet sich mit der St. Marien-Andreas-Kirche die älteste und wichtigste Kirche Rathenows, deren Anfänge wohl noch bis in das 12. Jahrhundert zurückgehen, mitsamt zugehörigem Friedhof, der nahezu die gesamte Hügelkuppe einnimmt. Letzterer wurde erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf ein neues Gelände am Weinberg jenseits der Havelschleife verlagert. Zum Sanierungsgebiet gehörte aber auch das Areal östlich des Kirchbergs, der Bereich um den späteren Freien Hof, der zu den ältesten Siedlungsbereichen der um 1216 erstmals urkundlichen erwähnten Stadt Rathenow gehört. Der wohl ursprünglich markgräfliche Hof, erwähnt erstmals 1451, könnte in das 14. Jahrhundert oder noch weiter zurückgehen.

Die Gruften

Als der Bagger genau in der Flucht der zu verlegenden Trinkwasserleitung auf eine Gruft traf und diese leicht beschädigte (Bild 01), konnten wir durch die entstandene Lücke am Fußende einen ersten Blick auf den Inhalt werfen: Ein zerfallener, aber vollständiger und ansonsten offensichtlich völlig ungestörter Holzsarg sowie ein Schädel mit Textilresten war sichtbar, als wir die „endoskopisch“ gewonnen Digitalfotos betrachteten. Die Gruft musste komplett untersucht werden, was eine Reihe interessanter Ergebnisse brachte (Bild 02).

Am Boden der 2,5 x 1 m großen und ca. 1 m hohen Gruft stand auf zwei quer gemauerten Ziegelreihen ein aufwändig gearbeiteter Holzsarg aus profilierten Eichenbrettern (Bild 03), dendrodatiert auf „nach 1759“. Die Gewölbekappe war nach der Beisetzung von außen zugemauert worden, der Sarg daher von herabfallendem Mörtel stark bespritzt. Die Bretter des trapezförmigen Sargs, der mit dem Deckel einen sechseckigen Querschnitt aufwies, waren durch Holzdübel verbunden. Sowohl am Deckel wie auch am Unterteil befanden sich jeweils sechs Sargriffe mit einem als Blätterranken ausgebildeten Beschlag.

Im Sarg, gebettet auf Hobelspäne, lag eine über 60-jährige Frau von nur etwa 151 bis 155 cm Körpergröße. Die Leiche ist teilmumifiziert, Teile der Kopfhaut sowie große Partien der Weichteile von Beinen und Rumpf sind als bräunliche, trockene, lederartige Reste vorhanden, in der Brusthöhle sowie den Augenhöhlen konnten schwammartig vertrocknete Weichteilreste innerer Organe bzw. der Augäpfel erkannt werden. Vorhanden sind wenige Reste der Kopf- sowie ein Großteil der Schamhaare. Bis auf die Schneidezähne im Ober- sowie Schneide- und Eckzähne im Unterkiefer sind alle anderen Zähne ausgefallen, der knöcherne Zahnfächer zurückgebildet. Alle Zähne weisen starke Abnutzungsspuren auf.

Das weibliche Individuum liegt in gestreckter Rückenlage, die Arme neben dem Rumpf (Bild 04). Auf der linken Körperseite befinden sich Bündel von Gräsern, unter den Ober- und den Unterarm geschoben, vermutlich zur Stabilisierung der Lage des Arms.

An der Leiche haben sich einige Kleidungsstücke erhalten: Auf dem Kopf befindet sich eine Haube aus gazeartigem Gewirke, vermutlich Seide. Rüschenartig gerafft verläuft das Textil rund um den Kopf, an der äußeren Kante ist ein schmales Band aus Spitze angenäht. Dieses scheint unter dem Kinn verknotet zu sein. Am Scheitel ist die Haube gerafft, sie wird durch mehrere Stecknadeln aus Bronze oder Kupfer sowie aus Eisen zusammengehalten. Auf dem Oberkörper befindet sich eine Jacke aus dem gleichen Stoff wie die Haube. Sie wird durch Rüschenbänder eingefasst und im Bereich des Dekolletés durch Stecknadeln zusam-mengehalten, zum Bauch hin öffnet sich das Gewand wieder. Im Schulterbereich zweigen angenähte Rüschenbänder über die Schultern hin ab, die wohl zu einem großen Kragen gehören. Auffällig ist eine große Schleife aus Seidenstoff, die im Brustbereich mit mehreren Nadeln auf dem Gewand appliziert ist (Bild 05). Die Enden des Bandes sind mit der Schere zickzackartig eingeschnitten. Im Bereich der Arme finden sich weitere Stoffreste, die der Lage eines Rüschenbandes zufolge wohl zu ellenbogenlangen Ärmeln gehören.

Vereinzelt sind im Bereich der Kleidung weitere kleine Reste von pflanzlichen Textilien - wohl Leinen - vorhanden, die zu weiteren Stoffen gehörten, darunter kleine Rosetten. Kleidungsreste konnten bislang im Bereich des Unterleibs und der Beine nicht festgestellt werden. Als Arbeitshypothese kann vermutet werden, dass die erhaltenen Textilien zu einem speziellen Totenhemd gehören, das evtl. nicht einmal bis unter den Rücken reicht. Der untere Teil des Körpers der Toten dürfte mit einem Tuch oder einer Decke aus nicht erhaltenen Textilien abgedeckt gewesen sein. Ebenso muss es vermutlich Unterwäsche aus nicht erhaltenen Textilien gegeben haben. Reste einer Sargauskleidung fehlen ebenfalls.

Bei einer erneuten Besichtigung des durch die Abteilung Restaurierung des BLDAM en bloc geborgenen Fundes konnte 2005 in Wünsdorf ein bis dahin nur ansatzweise erkanntes weiteres Ausstattungsutensil genauer in Augenschein genommen werden: Hierbei handelt es sich um ein großes Collier aus teilweise vieleckig bis zylinderförmig geschliffenen, roten Glasperlen (Bild 06). Dieses liegt um den Hals und reicht mit der unteren Spitze bis zum Brustbein, so dass der ganze Bereich des Dekolleté bedeckt wird. Hinter dem Hals scheint es mit einem schmalen Seidenband verknotet zu sein. Die Breite des Glasperlenschmucks beträgt im Halsbereich gut 25 cm, die Länge bis zum Brustbein über 10 cm. Die Glasperlen sind in vielen zusammengesetzten Ringen angeordnet, so dass sich florale Muster ergeben.

Die Kleidung passt stilistisch gut in die Zeit des Rokoko. So war bei der Frauenmode im Spätrokoko ein weiter und üppiger Schnitt der Oberbekleidung üblich, so dass meist ein großes Dekolleté entstand. Das im Rokoko „Manteau“ genannte Oberkleid war vorne offen, die Öffnung durch einen Stecker oder eine große Schleife verdeckt. Die Ärmel der Manteaus endeten üblicherweise in Volants.

Da die Beerdigungsbücher der Rathenower Gemeinde in Brandenburg an der Havel erhalten geblieben sind, wurde der Versuch unternommen, die bestattete Frau zu identifizieren, was leider nicht gelang: Erst zum Ende des 18. Jahrhundert finden sich (selten) Angaben zu Bestattungsort, Alter oder Todesursache.

Nahezu gleicher Zeitstellung dürften noch die vier anderen Gruften sein, die im Zuge der Grabungsarbeiten in Rathenow festgestellt wurden. Von diesen konnte aber keine mehr in gleicher Weise untersucht werden: Eine lag unmittelbar neben der bislang beschriebenen; Fotos des Inneren, aufgenommen durch eine winzige Öffnung, zeigen ein nahezu gleichartiges Interieur. Diese Gruft konnte in situ verbleiben. Eine weitere Gruft musste geöffnet werden, dabei zeigte sich, dass das Innere stark verpilzt war. Auf eine Untersuchung wurde daher weitgehende verzichtet, die Gruft mit Sand verfüllt. Die beiden letzten Gruften waren schon beim Auffinden mit Schutt verfüllt, keine Reste des einstigen Inhalts mehr festzustellen. Vermutlich sind sie schon vor vielen Jahren eingebrochen und dann aufgefüllt worden.

Der Kirchhof

Auf dem Kirchberg wurden neben den Gruften insgesamt 580 Gräber mit 613 Individuen erfasst. Von den Gräbern liegen aber nur ca. 10% vollständig vor, was im Wesentlichen durch die schmalen Schnitte für Medienleitungen begründet ist. Nur im Südwesten des Kirch-platzes haben wir größere Friedhofsflächen im Planum erfassen können, wobei die Bestattungen hier schon bei knapp 30 cm unter der Geländeoberkante angetroffen wurden (Bild 07).

Nur an einer Stelle fand sich ein obertägiger Grabbau: Eine einzelne Grabeinfriedung eines Doppelgrabs, unter der ein Mann zwischen 40 und 60 Jahren zusammen mit einer Frau bestattet war - höchstwahrscheinlich ein Ehepaar. Es handelt sich um den einzigen Fall, in dem zum einen das zur Zeit der Grablegung vorhandene Oberflächenniveau erschlossen werden kann, und zum anderen ein Rückschluss auf manche obertägig sichtbaren Grabmarkierungen gezogen werden kann. Denn auf der Einfriedung ruhten sicher zwei große Steinplatten als Grabsteine, wie die Anordnung der Ziegel und Mörtelspuren schließen lassen. Diese Doppelbestattung bildet für die „Stadt der Optik“ Rathenow jedenfalls einen ganz besonderen Fund, denn dem Mann war eine Brille in die Armbeuge gelegt worden (Bild 08); diese bestand aus zwei runden Gläsern, gefasst mit einer eisernen, dünnen Randeinfassung. Beide Gläser sind offensichtlich plan und waren nicht geschliffen! Das Grab gehört zu den letzten, die auf dem Kirchberg angelegt wurden und datiert daher grob um 1800. Bezeichnenderweise lag es unmittelbar vor dem Geburtshaus des Begründers der Rathenower optischen Industrie, Johann Heinrich August Duncker, der 1767 im Gebäude Kirchplatz 12 geboren wurde und 1843 starb. Ob es sich bei den hier bestatteten Personen wohl um seine Eltern handeln könnte?

Die restlichen Gräber waren durchweg zeittypische Bestattungen in christlichem Ritus. In insgesamt 22 Gräbern waren entweder mehrere Erwachsene oder ein bis zwei Erwachsene zusammen mit einem oder zwei Kindern bestattet (Bild 09). Die Kinder konnten zwischen den Beinen, am Fußende des Sargs oder auf dem Körper des unteren Individuums angeordnet sein. Dabei dürften in aller Regel keine Verwandtschaftsbeziehungen bestehen. Ein besonderer Fall einer Mehrfachbestattung konnte ganz im Norden des Kirchplatzes festgestellt werden: In einer breiten Grube standen hier acht Särge aufeinandergestapelt. In drei Lagen fanden sich unten drei Särge mit drei Kleinkindern, darauf weitere drei Särge mit einem Kleinkind, einem 6- bis 12-jährigen Kind und einer Frau über 40 Jahre. Zuoberst standen zwei Särge mit einem weiteren Kindes zwischen 6 und 12 Jahren sowie einem Mann über 60 Jahre. Wahrscheinlich muss daran gedacht werden, dass diese beiden Erwachsenen und die sechs Kinder Opfer einer Epidemie, z. B. der Cholera oder der Pocken, geworden sind und daher alle gleichzeitig beigesetzt wurden.

Von allen untersuchten Gräbern waren 33% mit noch nicht erwachsenen Personen belegt. Laut Beerdigungsbuch der Kirchengemeinde für das 17. und 18. Jahrhundert wären etwa 50% Kinder zu erwarten (z. B. werden für das Jahr 1765 29 „Männer“, 31 „Frauen“, 34 „Söhne“ und 30 „Töchter“ aufgeführt). Hier liegt sicherlich eine taphonomisch begründete Abweichung vor: Kindergräber waren meist flacher angelegt, wurden daher öfter durch jüngere Bestattungen gestört und sind daher bei Ausgrabungen auch in geringerer Zahl zu erwarten. Viele Kinder wurden auch in gesonderten Bereichen bestattet (z. B. „Traufkinder“ unter der Dachkante der Kirche, ein Bereich, der in Rathenow fast nirgendwo ergraben wurde) und fehlen daher in der Statistik.

Bei den Kindern sind ca. 9% als Neugeborene noch im ersten Lebensjahr verstorben, etwa 39% starben vor Erreichen des 7. Lebensjahrs. Danach nimmt die Anzahl der Sterbefälle je Altersklasse ab: Weitere 30% starben, bevor sie 12 Jahre alt wurden, und die restlichen 22% erreichten immerhin das Jugendalter.

An Beigaben in den Gräbern sollen nur eine 37-teilige Bernsteinkette bei einem Kleinkind (Bild 10) sowie ein silberner Fingerring in einem anderen Grab erwähnt werden, außerdem ein eiserner Doppelangelhaken auf der Brust eines Mannes. Charonspfennige konnten bei 18 Individuen festgestellt werden, wobei zwei Personen (darunter der „Mann mit der Brille“) jeweils zwei Münzen im Mund hatten.

Einem Erwachsenen wurde am Kopfende des Sarges ein Ziegel als „Kissen“ unter den Kopf geschoben. Im Falle eines weiteren erwachsenen Mannes hatte ein Ziegel den Schädel zertrümmert, wobei der Ziegel bei der Aufdeckung noch in situ lag. Wie es zu dieser Befundsituation kam, muss Spekulation bleiben.

An auffälligen Pathologica sollen nur wenige Beispiele erwähnt werden:

Die Friedhofsgrenzen sind jetzt erstmals klar fassbar geworden: Im Norden und Westen bilden die Häuserfluchten die Grenze, wobei diese unmittelbar an den Gräbern lagen. Im Osten beschreiben die Parzellengrenzen in etwa die Friedhofsgrenze, wobei Gräber im Bereich der Zuwegungen auch darüber hinaus reichen. Nur im Süden wurden offensichtlich die beiden Gebäude des 19. Jahrhunderts innerhalb des Friedhofs errichtet, der davor offensichtlich bis kurz vor die Stadtmauer reichte. Insgesamt hatte der Kirchhof einschließlich der Kirche eine Fläche von über 5.000 m²!

Bohlenweg und Pflasterstraße am Freien Hof

Auch die baubegleitenden archäologischen Untersuchungen im Altstadtbereich östlich des Kirchbergs erbrachten interessante Ergebnisse: Offensichtlich ist heute noch bestehende Wegenetz seit der Stadtgründungszeit erhalten geblieben. Direkt unterhalb des Kirchbergs konnten bis zu vier mittelalterliche Laufhorizonte dokumentiert werden, z. T. mit Ästen und Zweigen notdürftig befestigt. Der einzige heute nicht mehr vorhandene Straßenverlauf war ein aus Erlenholzbohlen bestehender Weg (Bild 11). Diese knapp 2 m breite Straße stammt aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhundert und führte von Nordosten her auf das Haus Freier Hof 5 zu. Stratigrafisch gehört dieser Befund zu einer 4 m breiten Feldsteinpflasterstraße, die unter der Westhälfte der heutigen Straße Freier Hof von Nordwesten her ebenfalls auf das Grundstück Freier Hof 5 zuführt (Bild 12). Diese Straße ist mit größeren Feldsteinen eingefasst und hat eine sehr sauber gesetzte Oberfläche. Die Erbauungszeit liegt etwa im 15./16. Jahrhundert. Sowohl das Pflaster als auch der Bohlenweg werden von einer Brandschuttschicht mit einem hohen Anteil von verbranntem Lehmgefach überdeckt, die um 1700 herum entstanden sein dürfte. Nahe der Stadtmauer fand sich ein Hausfundament eines Gebäudes, das ebenfalls im Zuge dieser Brandkatastrophe verloren gegangen sein dürfte und danach nicht wieder aufgebaut wurde.

Über dem vorher genannten Bohlenweg konnte ein interessanter Fall „umgekehrter Stratigrafie“ festgestellt werden: Über der Schuttschicht des 17./18. Jahrhundert fand sich eine Holzlage, die Dendrodaten von 1220, 1260 und 1355 erbrachte. Ganz offensichtlich handelt es sich dabei um Hölzer einer auf Grundstück Freier Hof 5 befindlichen Hauswand, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts beim Bau des heutigen Hauses niedergelegt wurde. Möglicherweise befanden sich auf dem Grundstück bis zu diesem Zeitpunkt mehrere Gebäude unterschiedli-cher mittelalterlicher Zeitstellung.

Dieses ist gleichzeitig wieder ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Lage des ehemaligen markgräflichen Hofes tatsächlich hier vermutet werden muss. Darauf weisen nicht nur die mittelalterlichen Hölzer hin, sondern auch der Umstand, dass sowohl ein befestigter Bohlenweg als auch eine durchaus repräsentativ zu nennende Pflasterstraße darauf zuführte. Letztere verband wahrscheinlich den markgräflichen Hof mit dem Rathaus, das früher an der Steinstraße stand.

Autor: O. Ungerath M. A. (Wurzel Archäologie GmbH)

Abbildungen: Wurzel Archäologie GmbH, Stahnsdorf

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